In seinem Buch „Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ untersuchte der australische Historiker Christopher Clark die Ursachen…
… des Ersten Weltkriegs und sah diese vor allem in der Balkankrise, dem dortigen Aufeinandertreffen von Österreich und Russland, in der Rivalität zwischen Großbritannien und dem deutschen Reich um den Führungsanspruch – aber auch in der Blindheit der politischen Führungsriege von damals. Die hatte falsche Visionen vor Augen und war nicht in der Lage, die wirkliche Situation der Welt und seiner Völker zu erkennen – und so löste sie diesen unbegrenzten Krieg aus, der zum Selbstmord des liberalen Europa und dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts führte.
Hundert Jahre nach dem Ende des großen Krieges befindet sich die Europäische Union inmitten einer existenziellen Krise, die sogar zu ihrer Auflösung führen könnte. Und das liegt an einer neuen Generation von Schlafwandlern. Der Zusammenschluss des Kontinents nach 1945 gelang dank des gemeinsamen Interesses am Widerstand gegen die Sowjetunion, an der Sicherheitsgarantie durch die Amerikaner, dem deutsch-französischen Frieden und der Umschiffung strategischer Fragen durch die Justiz und den Handelsmarkt. All das ist lange her und längst überholt. Dennoch hat sich nicht das Geringste verändert.
Das reiche, alternde und im Grunde wehrlose Europa wird von Dschihadisten und Demokraturen ins Visier genommen; es ist umgeben von Kriegen, die sich an seinen Grenzen ausbreiten. Die Vereinigten Staaten, einst Garant der Sicherheit der Welt, des Kapitalismus und der Demokratie, haben sich unter der Führung von Donald Trump, der eine methodische Zerstörung des multilateralen Systems und eine Destabilisierung der Union verfolgt, zum größten Risiko entwickelt. Vor allem der Populismus hat sich zum Störfaktor entwickelt, das die Demokratie zermürbt, indem er ihren Institutionen und Werten die Rechtmäßigkeit abspricht.
Der Zerfall Europas vollzieht sich in Etappen: zunächst durch die sehr schnelle, improvisierte Vergrößerung der EU nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dann durch die Einführung des Euro ohne entsprechende Institutionen und Regeln, gefolgt von der Finanzkrise 2009 und schließlich der unkontrollierbaren Flüchtlingswelle seit 2015. All das hat bei den Menschen einen tiefen Groll ausgelöst, der seit dem Brexit immer heftiger wird. Momentan sind Europa und seine Mitgliedstaaten aufgrund fundamentaler Differenzen untereinander wie gelähmt, die durch den Zwist des deutsch-französischen Paares verdeutlicht werden. Hier prallen die schnellen, schocktherapieartigen Methoden von Emmanuel Macron, der mittlerweile in Europa völlig isoliert ist, auf den Stabilitäts- und Konsenskult von Angela Merkel.
Will Europa überleben, muss es sich neu erfinden. Und das bedeutet, dass die Schlafwandler endlich aufwachen müssen. Es bringt nicht das Geringste, den Populismus moralisch zu verdammen, man muss stattdessen seine Ursachen bekämpfen: Indem man den guten Ruf der Nationen und Staaten gegenüber der Tyrannei von Gemeinschaften und Minderheiten wiederherstellt. Indem man alle daran erinnert, dass Sicherheit nach wie vor die wichtigste Grundlage für Freiheit darstellt. Und indem man unterstreicht, dass ein freier Personenverkehr wiederum strenge Kontrollen an den Außengrenzen erfordert. Die Prioritäten sind wohlbekannt: die Effizienz der europäischen Institutionen vereinfachen und verstärken und sie durch eine starke Führungsriege vertreten lassen, und nicht indem man weitere Posten für noch mehr Unfähige schafft. Die Souveränität Europas gegenüber den Giganten des 21. Jahrhunderts unter Beweis stellen in den Bereichen Handel, Technologie und Steuerpolitik, aber auch auf finanzieller Ebene, indem man den Euro zu einer völlig eigenständigen internationalen Währung macht. Eine Förderung von inklusivem Wachstum, vor allem für die Jugend, dank einer massiven Investition ins Bildungswesen. Und eine weitere Investition in die Sicherheit.
All das jedoch hängt in erster Linie von einem entscheidenden Punkt ab: einer Lösung der Flüchtlingskrise. Die kommenden Wahlen in Europa werden auch ein Referendum für die Union darstellen. Und dieses Referendum wird sich vor allem um das Thema Einwanderung und Flüchtlinge drehen. Und es dürfte negativ ausfallen. 1935 betonte Edmund Husserl in Wien angesichts des Aufstiegs des Nationalsozialismus: „Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft.“ Jetzt müssen wir wählen zwischen Untergang und Wiedergeburt.
In Kooperation mit „Lena“.Übersetzt aus dem Französischen von Bettina Schneider
Cette chronique est publiée simultanément
par sept quotidiens européens