Negativzinsen kreieren Blasen und destabilisieren die Gesellschaften Europas, deren Mittelschicht erodiert
Jetzt, nach dem Amtsantritt von Christine Lagarde als Präsidentin der EZB, werden sich die Negativzinsen als strittigster Punkt des Erbes von Mario Draghi erweisen, wie es auch in den öffentlichen Kontroversen deutlich wird. Der Einsatz der Negativzinsen gehörte zum Maßnahmen-Arsenal zur Förderung der Wirtschaft, das nach dem Crash von 2008 eingesetzt wurde, um eine Deflationsspirale zu verhindern.
Dabei wurden drei Ziele verfolgt: eine Senkung sämtlicher Steuersätze, eine Umverteilung von Portfolios auf Kredite und Vermögenswerte und eine Senkung des Wechselkurses, ein Hauptanliegen der Währungsbehörden aus der Schweiz und Dänemark.
Die Entscheidung Mario Draghis, diese negativen Zinssätze im Juni 2014 einzuführen, lassen sich zunächst durch die Fehler seines Vorgängers Jean-Claude Trichet erklären. Die absurden Zinserhöhungen von 2008 und 2011, zu einer Zeit, als sich mehrere Staaten bereits in Zahlungsverzug befanden, brachten den Euro-Raum in Gefahr.
Dadurch erklärt sich auch, dass dieser zehn Jahre brauchte, um das Aktivitätsniveau vor der Krise wieder zu erreichen, während es den USA in schon fünf Jahren gelang, weil Ben Bernanke dort bereits 2009 massive Ankaufprogramme für Vermögenswerte eingeführt hatte.
Draghi – der Retter des Euro?
Mario Draghi wird als Retter des Euro in die Geschichte eingehen. Doch der Preis, den es für das Überleben dieser einzigartigen Währung zu zahlen galt, wird nach wie vor stark unterschätzt. Die Euro-Zone durfte ihre Währung behalten, konnte jedoch nicht der Japanisierung entkommen, mit einem langsamen, hinter dem der USA weit zurückliegenden Wachstum, einer Inflationsobergrenze von einem Prozent und einer Arbeitslosenquote, die nur von zwölf auf sieben Prozent gesenkt werden konnte, während in der Welt Vollbeschäftigung herrscht, sowie einem schwächelnden Bankensystem, das nur zum Teil rekapitalisiert und nicht restrukturiert wurde.
Dieser missglückte Aufschwung wiederum hat mit zur Schockwelle des Populismus geführt, die den Kontinent überrollt und sowohl seine Integration als auch seine Demokratie bedroht.
Die negativen Zinsen sind eine der Hauptursachen für die Stagflation der Euro-Zone und auch für den Populismus mitverantwortlich. Auf die reale Wirtschaft haben sie keinerlei positiven Einfluss mehr, da die Zentralbanken zwar über die Macht verfügen, Geld zu erschaffen, aber nicht, seine Verwendung zu steuern.
Doch mit unbegrenztem und kostenlosem Geld wird sofort spekuliert. Und so sorgen die negativen Zinsen wiederum für eine Blasenökonomie und verbreiten eine fiktive Kaufkraft durch Vermögensspekulation, wodurch sich wiederum die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Absturzes erhöht.
Eine Maschinerie, die neue Blasen kreiert
Die Negativzinsen stellen vor allem so etwas wie eine Maschinerie dar, um neue Spekulationsblasen zu kreieren. Sie verzerren die Zuweisung von Ressourcen zugunsten der Rentenzahlungen und zum Nachteil von Investitionen und Innovationen, was wiederum den Boom von Immobiliengeschäften in den Ballungsräumen der Großstädte erklärt. Sie sorgen für mehr Ungleichheit und Monopole, indem sie die Konzentration von Reichtum der großen und reicheren Unternehmen fördern.
Sie vernichten das Sparen, sorgen für eine Verarmung der Mittelschicht, was dann wieder den Extremismus fördert und für verschärfte Spannungen zwischen den verschiedenen Nationen der Euro-Zone sorgt. Europa kann sich weder auf die Homogenität seiner Bevölkerung noch auf ein starkes Nationalgefühl oder den sozialen Zusammenhalt verlassen, der etwa Japan auszeichnet. Es muss also dringend ein Weg zum Ausstieg aus den Negativzinsen gefunden werden.
Die negativen Zinsen erinnern uns daran, dass auch die Geldpolitik nicht alles kann. Die EZB wird nur durch eine Neuregelung der Wirtschaftspolitik im Euro-Raum dieser Falle entkommen können, die die Mobilisierung der Haushaltsmargen der Überschussstaaten, massive Investitionen in Bildung, die digitale Revolution, den ökologischen Übergang und die Sicherheit sowie einen wirksamen Schutz des Binnenmarkts, der Wissenschaft und der strategischen europäischen Vermögenswerte kombiniert.
Wenn die EZB mit den negativen Zinssätzen ihre Kompetenzen überschritten hat, dann liegt das in erster Linie daran, dass die Regierungschefs der Union und ihrer Staaten die Ausübung ihrer Machtbefugnisse aufgegeben haben. Jetzt liegt es an ihnen, ihre Verantwortung wieder zurückzuholen.
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