Die EU glaubte lange, sie habe keine Feinde. Aber Putin droht, Erdogan erpresst – und jetzt verstärkt auch noch der IS seine Attacken. Zugleich ziehen sich die USA zurück. Und Europa wirkt schwach.
Nach Paris war nun also Brüssel das Ziel des vom Islamischen Staat verbreiteten Massenterrors. Die dortige Vorgehensweise zeigt eine Veränderung in der Form und der Intensität des Terrorismus. Diese praktisch gleichzeitig durchgeführten militärischen Angriffe, an stark frequentierten öffentlichen Plätzen in europäischen Hauptstädten, die nicht ausreichend geschützt sind, zeugen in hohem Maße von einer strategischen Planung und operativen Koordinierung.
Der präzise festgelegte Augenblick, gerade als sich Regierung und Polizei gegenseitig zur Festnahme von Salah Abdeslam beglückwünschten, beweist die Reaktionsfähigkeit des Islamischen Staates und unterstreicht unsere Verwundbarkeit. Die gewählten Ziele – der Flughafen von Zaventem und die Metrostation Maelbeek, nur etwa hundert Meter vom Sitz der Europäischen Institutionen entfernt – sollten, über Belgien hinaus, Europa treffen, seine demokratischen Werte und seine Prinzipien eines freien Waren- und Personenverkehrs.
Diese Machtdemonstration des Islamischen Staates steht im Zusammenhang mit seiner Umstrukturierung in Richtung neuer, externer Schauplätze in Nordafrika und Europa, die seinen Rückzug aus dem Irak und Syrien begleitet. Und das mit vier Prioritäten. Zunächst geht es darum, die langsame Erholung der Wirtschaft zu schädigen durch den Wiederaufbau von Handelshemmnissen (das Außerkraftsetzen von Schengen würde in Bezug auf Wachstum einiges kosten) sowie durch die Verbreitung eines Klimas der Angst und Verunsicherung.
Dann wird versucht, mehr Einfluss auf einen Teil der Jugend zu bekommen und so auch die Rekrutierung von Dschihadisten wieder zu erhöhen (7000 bis 8000 waren in Syrien engagiert, davon starb ein Viertel, 1500 kehrten zurück nach Europa). Es wird die Bevölkerung terrorisiert und ein Klima des Bürgerkriegs mit religiösem Hintergrund verbreitet. Sobald sich der Schengen-Raum selbst aufgelöst hat, soll eine Dynamik des Zerfalls der Union eingeleitet werden.
Die Situation ist tragisch. Europa, das davon träumte, in die Geschichte einzugehen, will keine Feinde, und es will auch niemanden als solchen anerkennen müssen. Doch nun sieht es sich im Islamischen Staat mit einem Feind konfrontiert, der ihm den totalen Krieg erklärt und eine Zerstörung seiner Werte und seiner Zivilisation anvisiert. Einen dauerhaften und permanenten Krieg, der eine nihilistische Ideologie als göttliche Wahrheit darstellt und die Europäer nicht für das massakriert, was sie tun, sondern für das, was sie sind.
Von außen wird Europa durch den neuen Autokraten an der Spitze des russischen Reiches und den Neu-Osmanen in der Türkei erpresst, die sich immer mehr Gebiete als Unterpfand unter den Nagel reißen oder es damit unter Druck setzen, wann und wie der Handel mit Flüchtlingen eingedämmt wird oder auch der Waffenhandel, den sie in Gang halten.
Und gleichzeitig wird die Sicherheitsgarantie durch die Vereinigten Staaten, auf der sich unser Kontinent nach wie vor ausruht, immer relativer und vager, angesichts der neuen Strategie des Isolationismus, der nach den Irak- und Afghanistan-Kriegen folgte, sowie der größeren Aufmerksamkeit Richtung Asien und des gleichzeitigen Rückzugs von unserem Kontinent.
Europa darf das alles nicht länger verdrängen. Es riskiert nicht nur eine Kontinuität seiner Integration, sondern das eigene Überleben. Wenn es die eigene Freiheit nicht opfern will, darf es nicht mehr in einem derartigen Sicherheitsvakuum verbleiben, schließlich wird es von den baltischen Staaten bis hinunter nach Marokko förmlich eingekreist, was diese Bedrohung anbetrifft. Sein ganzes Gebiet und seine Bevölkerung werden von mörderischen Attentaten getroffen, ein Teil seiner Jugend wird von seinen Feinden rekrutiert.
Diese neuen Gegebenheiten erfordern ein komplettes strategisches Umdenken. Seit 60 Jahren hat sich Europa durch seine Gesetze und seine Wirtschaft gegen den Krieg aufgebaut und gleichzeitig aus Sicherheit eine anpassbare Variable gemacht. Doch jetzt muss der Ausarbeitung und operationalen Umsetzung einer europäischen Sicherheitsstrategie absolute Priorität eingeräumt werden.
Natürlich bleiben die Staaten eigenverantwortlich in Sachen Sicherheit. Doch die Attentate von Paris und Brüssel beweisen, dass die Bedrohung an Grenzen nicht haltmacht. Die Wechselwirkung und der Welleneffekt sind in der Domäne des Terrorismus ebenso bemerkenswert wie in der Finanzwelt innerhalb des Euro-Raums.
Die Belastbarkeit eines Ganzen ist nur so viel wert wie sein schwächstes Glied: Griechenland aufgrund seiner Staatsschulden; Belgien, was die Sicherheit anbetrifft, angesichts seiner Rolle als Refugium für Islamisten und der Schwachpunkte seines Staates. Die Effizienz der nationalen Sicherheitspolitik ist von jetzt an abhängig von der Einführung einer europäischen Sicherheitspolitik.
Was wollen wir tun? Die Bevölkerung schützen, die wichtigste Infrastruktur, das Territorium und die äußeren Grenzen der Union – und gleichzeitig die Peripherie stabilisieren. Und das auf welche Weise? Indem wir jegliche institutionellen und theologischen Debatten vermeiden und uns nur noch auf die operative Effizienz konzentrieren. In jedem Land muss ein Führungsstab für den Kampf gegen den Islamismus aufgebaut werden, der Geheimdienst, Polizei, Justiz und Militär umfasst und diese koordiniert.
Wir müssen die Kontrolle unserer äußeren Grenzen wieder übernehmen, indem wir die nationalen Streitkräfte durch ein europäisches Korps der Küstenwache und des Grenzschutzes verstärken – Frontex hat ein Budget von 145 Millionen Euro im Vergleich zu 32 Milliarden Dollar für das Homeland Department in den USA. Wir müssen den Schengen-Raum sichern, indem endlich der Datenaustausch verwirklicht wird, der derzeit noch auf diejenigen beschränkt ist, die über die Vereinigten Staaten kommen.
Die anarchische Aufnahme von Flüchtlingen muss enden, die von einigen Hunderten von Dschihadisten infiltriert wurden, indem wir ein europäisches Kommissariat aufbauen, das Asylrecht vereinheitlichen und diejenigen, die nicht registriert sind, wieder zurückschicken.
Es braucht eine Politik der gemeinsamen Entwicklungshilfe für Nordafrika, vor allem in Tunesien. Wir müssen wieder aufrüsten, unter Berücksichtigung der Nato-Norm, die ein Minimum von zwei Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben vorsieht, und ein europäisches Darlehen einführen, um die Sicherheit auf dem Kontinent wiederherzuste
Die Tragödien von Paris und Brüssel dürfen nicht unbeantwortet bleiben. Sie stellen eine einzigartige Gelegenheit dar, Europa neu zu überdenken. Diejenigen, die es zerstören wollen, der Werte wegen, die es verkörpert, unterstreichen dabei unfreiwillig auch seine Identität und seine Schicksalsgemeinschaft. Wir müssen jetzt den Mut wiederfinden, unsere Demokratien zu verteidigen, indem wir für die Sicherheit seiner Bürger sorgen und nicht nur für die von bestehenden Normen.
1935 zog Edmund Husserl angesichts des Aufstiegs des sowjetischen und nationalsozialistischen Totalitarismus folgende Schlüsse: „Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft. Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit.“
Lasst uns nicht vor der Barbarei zurückweichen. Wehren wir uns gegen Müdigkeit und Angst. Lasst uns mit dem Heroismus der Vernunft den radikalen Islamismus bekämpfen, ohne Hass, aber auch ohne Unterlass, bis er besiegt ist.
Der Autor ist Dozent der Sozialwissenschaften und Kolumnist von „Le Figaro“. Gerade erschien von ihm „Danser sur un volcan“ (Auf einem Vulkan tanzen) bei Albin Michel. Aus dem Französischen von Bettina Schneider.